Wozu dient eigentlich die Freimaurerloge?

Erschienen in der Zeitschrift La Chaîne d'Union, Paris, Nr. 2/1997 und dann erneut in einer „Sonderausgabe“ dieser Zeitschrift in Englisch, Nr. 2/2002. Die folgende Übersetzung enthält einige kleine Änderungen.

Die Frage kann naiv erscheinen. Sie kann ironisch, skeptisch scheinen, ggf. als Ausdruck der Ratlosigkeit klingen. Dabei hat sich jeder von uns diese Frage eines Tages gestellt und stellt sie wahrscheinlich von Zeit zu Zeit immer wieder. Theoretisch genügt es, sich zu den Ritualen zu wenden, darüber nachzudenken, was uns bei unseren Arbeiten umgibt, zu beobachten, wie wir handeln, und wir finden die Antwort. Sie befindet sich in den Ritualen, im Tempel, in den Zeremonien – und sie ist überzeugend.

Aber die Rituale, der Tempel, unsere Ansichten und Gesten sind eine Sprache – und Sprachen muss man lernen, wenn wir sie verstehen sollen. Wir könnten denken, dass wir uns diese „Sprache“ ein für allemal aneignen können, aber in der Realität müssen wir sie ständig lernen. Die Sprache, die wir gelernt haben, aber nicht oft verwenden, wird schnell vergessen. Ich sollte hinzufügen, „die wir aber nicht oft genug aktiv benutzen“, weil es nicht genug ist, zum Beispiel nur das Radio zu hören und den Strom von englischen, deutschen, russischen Wörtern fließen zu lassen und dabei über etwas anderes nachzudenken, ohne dass wir versuchen, die Sprache ohne Nachdenken zu verstehen.

Es ist also ganz nützlich, ab und zu den „Alphabeten“ unserer Freimaurer-„Sprachen“ zurückzukehren, den „Wortschatz“ zu erfrischen, die „grammatischen Regeln“ zu klären.

Ich spreche über Sprachen im Plural, weil wir mindestens drei davon haben:

- die Sprache unseres Körpers (die Einweihung verläuft mittels physischer Handlungen, also durch Einstellungen und Taten),
- die Sprache der Embleme, Allegorien und Symbole (die sich zu unserer Intuition, unseren Vorstellungsvermögen und Gefühlen wendet),
- die Sprache der Wörter, die in sinnvolle Einheiten nach den allgemein anerkannten rationellen Regeln verbunden werden (diese Sprache ist für unseren Verstand bestimmt).

Damit wir uns entsinnen, wozu die Freimaurerloge dient, und sie besser verstehen, müssen wir uns daran erinnern, was der Tempel ist, in dem wir uns befinden, und was die Gemeinschaft der Freimaurer darstellt.

Der Freimaurertempel versinnbildlicht das Universum. Sonne, Mond und Sterne im Himmel, die Erde, an die das Senkblei über dem Logenteppich erinnert, der raue Stein und „Metalle“ im Vorraum, die Berufung auf die vier Weltrichtungen usw., dass alles ist hier, damit wir ständig an das Universum denken. Es handelt sich aber um einen geschlossenen Raum, getrennt von allen anderen. Im Tempel gibt es keine Fenster, oder wenn es welche gibt, wie zum Beispiel auf dem Logenteppich, sind sie geschlossen. Für die Freimaurer ist das Universum abgegrenzt und geschlossen.

Der Freimaurertempel stellt zugleich die menschliche Gesellschaft dar. Der Tempel ist nicht nur der Raum und die Gegenstände, die uns umgeben, sondern auch eine Gemeinschaft von Brüdern und/oder Schwestern, die sich darin befinden. Die Rituale erinnern uns bei jeder Arbeit, dass die freimaurerische Bewegung entstanden ist, um alle wertvolle Männer ungeachtet ihrer Rasse, Lebensanschauung und gesellschaftlicher Stellung zu vereinen. Als solche soll sie die neue Menschheit darstellen, die mit dem Band der Brüderlichkeit verbunden ist. Die Organisation der Loge mit ihren Meistern, Aufsehern und Arbeitern geht aus den allgemeinen Grundsätzen der Ordnung von menschlicher Gesellschaft aus.

Ähnlich wie andere menschliche Gruppen ist auch das freimaurerische Atelier nach bestimmter Hierarchie aufgebaut – predigt jedoch zugleich das Ideal der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit für jeden. Es kann einem widersprüchlich vorkommen. Die Würdenträger der Loge haben bestimmte Befugnisse und alle Brüder und/oder Schwester müssen sie achten: es ist kein Zufall, dass der ehrwürdige Meister vom Stuhl seinen Beamten siezt. Jeder von uns kann aber zugleich absolut frei mit jedem Bruderund/oder Schwester sprechen, unabhängig von seiner Stellung und jeglichen anderen Kriterien. Das Symbol dieser Gleichheit, die keine Rücksicht auf die Verschiedenheit unserer sozialen oder freimaurerischen Stellung nimmt, ist das Recht, das Schwert zu tragen. (Muss man hier bemerken, dass in der feudalen Gesellschaft nur die Adeligen dieses Recht hatten, die es in den Logen freiwillig mit allen anderen Brüdern teilten?)

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Kamir Pavel

Der Freimaurertempel ist die Darstellung von jedem von uns. Der Mensch ist nicht nur ein Teilchen des Universums und auch nicht nur ein Teil der Menschheit. Jeder von uns ist gleichzeitig das Universum an und für sich. Mit der Behauptung, dass „der Mensch das Universum ist“, denke ich an die Tatsache, dass wir aus Milliarden Genen (Spuren unserer Vorfahren), aus Zellen und Neuronen bestehen, dass in jedem Menschen unzählige Mengen von anderen Wesen leben und dass alle diese Elemente (deren Anzahl und Vielfalt mit der Vielfalt der Menschheit oder mit der Erdkugel mit allem, was sie trägt und nährt, zu vergleichen ist) überraschend gut geordnet sind.

Der Freimaurertempel stellt also gleichzeitig das Universum, die Menschheit und den Menschen dar. Er erinnert uns wirkungsvoll daran, dass wir unzertrennlich mit anderen Menschen, mit der Erde und mit allem verbunden sind, was sich jenseits der Grenzen unseres Planeten befindet.

Eine weitere Besonderheit des Freimaurertempels ist, dass er das Universum, die Menschheit und den Menschen von ihrer Entstehung bis heute, also jenseits der Zeit darstellt. Die Zeit existiert in dem Tempel: Die Sonne geht auf, geht ihren Weg und geht unter, aber diese Zeit läuft in einem Kreislauf ab, ähnlich wie unsere Schritte bei den rituellen Arbeiten. Jeder Moment ihres unveränderlichen Laufs enthält die ganze Geschichte des Universums, schließt die Vergangenheit und Gegenwart aller menschlichen Gesellschaften ein und erinnert an unsere persönliche Geschichte vom ersten bis zum letzten Moment.

Die Gegenstände, die uns umgeben, stammen von verschiedenen Zivilisationen und Zeiten. Diese Vielfalt ist absichtlich und sinnvoll. Auch unsere Taten und Einstellungen sind ein Echo vieler vergangener und gegenwärtiger Zivilisationen. Und zum Dritten, die Texte unserer Rituale entspringen den ebenfalls vielfältigen Quellen. Deshalb sind wir gleichzeitig im alten Ägypten, in Jerusalem, in der jüdischen, katholischen und protestantischen Bibel, zeitweise sogar in Zentralasien, Indien oder China, wir leben gleichzeitig im Mittelalter, in der Zeitalter der Aufklärung (Siècle des Lumières), der Französischen Revolution und in der heutigen Zeit, die natürlicherweise ebenfalls Spuren in unseren Ritualen und Grundsätzen hinterlässt.

In dem Freimaurertempel, unter unseren Brüdern und/oder Schwestern unserer ehrwürdigen Werkstatt, befinden wir uns jenseits von Zeit und Raum.

Das heißt aber nicht, dass wir vor der Welt laufen. Im Gegenteil, der Tempel, dieses „verkleinerte Modell“, hilft uns, den Menschen, die Menschheit und das Universum zu verstehen. Und die meisten von uns kamen zu den Freimaurern mit der Hoffnung, dass wir ein Mittel finden, das es uns ermöglicht, den Menschen und der Gesellschaft besser zu dienen. Wie sollen wir aber auf die Welt wirken, wenn wir uns von ihr trennen? Dieses scheinbare Paradoxon quält uns oft in den ersten Jahren nach der Einweihung und dann wieder jedes Mal, wenn wir selbst oder unsere Loge oder unseren Orden vergessen, wie der Charakter unserer Instrumente ist und was wir damit wirklich machen können. Wir sind immer enttäuscht, wenn wir von der Freimaurerei etwas anderes erwarten, als sie uns geben kann. Der erwähnte scheinbare Widerspruch quält uns vor allem in den Zeiten, in denen die Gesellschaft durch scharfe Krisen geht und wir den Eindruck haben, dass wir machtlos sind. Wir sollen Folgendes jedoch nicht vergessen: je höher das Hindernis ist, das wir überspringen wollen, desto größer muss der Abstand sein den wir brauchen, um Anlauf zu nehmen.

Wie also kann uns die Freimaurerloge helfen? Erstens ermöglicht sie uns, sich von den alltäglichen Sorgen zu entfernen, sich von der profanen Welt zu lösen, sich zu befreien. In die Freimaurerloge zu kommen hilft uns neue Balance zu finden, sich der Ausgeglichenheit zu nähern. Es ist ein Akt der geistigen Reinigung.

Gleichzeitig, und wohl hauptsächlich, gewährt uns die Freimaurerei die einzigartige Gelegenheit, die menschliche Vielfalt zu genießen und sich dadurch bereichern zu lassen.

In der Loge erwerben wir wieder die Fähigkeit zu lernen, in gewissem Sinne ist es eine Universität für Erwachsene. Dank den Symbolen, Ritualen und, natürlich, auch den Abrissen der einzelnen Brüder und/oder Schwestern verstehen wir besser unsere Vergangenheit, Gegenwart und die Aussichten der Menschheit, der Gesellschaft und uns selbst. Wir eignen uns die Fähigkeit an, die Sachen aus einer gewissen Distanz zu sehen, und wir werden uns besser unserer Stellung in der Welt bewusst.

In diesem kann uns die Loge sehr behilflich sein. Sich selbst und seinen eigenen Wert im Verhältnis zu den anderen Menschen zu verstehen ist wichtig, aber schwer. Als Kinder sind wir der Mittelpunkt der Welt, weil wir „alles“ für unsere Nächsten sind. Das Erwachsenwerden ist auch deshalb schmerzhaft, weil wir auf einmal von dem Schwerpunkt zum äußersten Rand geraten, von der Wärme in die Kälte, von dem Meer der Liebe in die ungastlichen Länder der Gleichgültigkeit. Die Freimaurerei gibt uns die Gelegenheit, „andere und sich selbst achten“ zu lernen – nicht umsonst erinnert uns das Ritual bei jedem Treffen daran.

Und schließlich lehrt uns die Loge, alle Menschen als Brüder wahrzunehmen, trotz ihrer Schwächen und Mängel, und entwickelt unsere Neigung zur Solidarität mit ihnen. Da wir hier nicht mit unserem Geist, sondern mit dem ganzen Körper lernen, geht ein Teil der erworbenen Kenntnisse allmählich in das Unterbewusstsein über und wandelt sich in Reflexe um. Man sagt nicht umsonst, dass man die Freimaurer oft nach ihrem Verhalten erkennen kann, zum Beispiel nach ihrer Fähigkeit anderen Menschen zuzuhören.

Von diesem Zeitpunkt an sind wir bereit zusammen zu arbeiten ­ trotz, und vor allem dank unserer unglaublichen Vielfalt. Wir spüren nicht mehr das Bedürfnis, die Kraft für die Verachtung derer zu vergeuden, die anders denken als wir. Der Kampf gegen ihre Anschauungen lockt uns nicht mehr, vielmehr liegt uns an der Verteidigung unserer Wahrheit, die wir durchsetzen, ohne zu vergessen, dass sie nur relativ ist. Wir sind also zur Diskussion bereit, wir sind fähig, eine gemeinsame Meinung zu suchen und an dem Aufbau des allmenschlichen Tempels teilzunehmen. Das ist der Grund, warum die Freimaurerei auch als die Schule der Demokratie verstanden werden kann. Die Demokratie ist der Grundstein für die Arbeit der Loge. Deshalb gibt die Loge die Gelegenheit, die Demokratie in der Praxis zu studieren, sie zu verstehen und zu lernen. Mit der Teilnahme an der Tätigkeit der Freimaurerloge können wir die Struktur, die Grundsätze und die Ordnung der demokratischen Gesellschaft, den einzigartigen Charakter des Machtkampfes, der für sie spezifisch ist, ihre starken und schwachen Seiten besser verstehen. Natürlich ergeben sich beide Seiten aus der Vielfalt der Menschen und aus der eigentlichen Substanz des Menschen, die wahrscheinlich nicht dieser Art der Organisation der zwischenmenschlichen Beziehungen entspricht. Trotzdem scheint die Demokratie noch immer „das schlechteste politische System zu sein, außer allen anderen, die noch schlimmer sind“, wie Churchill sagte.

Eine auf diese Art und Weise wahrgenommene Loge ist ein Laboratorium, in dem wir den Menschen und seine Stellung in der Welt sowie im Universum untersuchen. Da sich die Freimaurerloge den Anforderungen auf Produktivität nicht fügen muss, ist sie die Werkstatt der grundsätzlichen, und nicht der angewandten Forschung. Jeder von uns verfolgt seinen eigenen Forschungsplan und wird durch die Arbeit der anderen Brüder und/oder Schwester reicher. Die Loge als solche realisiert gleichzeitig ihr Programm, selbst oder in Zusammenarbeit mit anderen Logen, ggf. mit dem ganzen Orden, dem sie angehört. Sie studiert die philosophischen, moralischen oder sozialen Fragen, die für sie besonders wichtig sind. Einige Logen konzentrieren sich auf die Metaphysik, andere auf wissenschaftliche Probleme, einige weitere auf die Gerechtigkeit usw. (übrigens, die Tatsache, dass es viele Freimaurerorden gibt, erweitert das Gebiet der Forschung und vervielfacht die anwendbaren Methoden. Die Anzahl der bestehenden Orden muss also nicht reduziert, sondern die Beziehungen zwischen ihnen verbessert, der Meinungsaustausch entwickelt und ihre Zusammenarbeit vertieft werden). Unabhängig des von der Loge untersuchten Themas hat die Loge bestimmte Vorteile im Vergleich zu den Wissenschaftlern, Philosophen, Soziologen, Historikern, Juristen, Moralisten usw., die sich mit dem gleichen Problem befassen. Obwohl die Kenntnisse ihrer Mitglieder nicht genauso breit sind wie das Wissen der Experten, und die Brüder und/oder Schwester nicht die gleichen technischen Mittel haben, stellt die Vielfalt ihrer Kenntnisse und Lebenserfahrungen einen einzigartigen Reichtum dar. Dank dem kann die Freimaurerloge eine neue, einzigartige und anregende Ansicht auf Erscheinungen finden, neue Problemlösungen vorschlagen ­­ und zugleich ihre Gültigkeit prüfen und untersuchen, wie die „profane“ Gesellschaft auf ihre Vorschläge reagieren könnte. Viele bahnbrechende Gesetzentwürfe werden in den Logen besprochen, deren Reaktionen, Kritik und Anregungen helfen, sie zu verbessern.

Dies alles erlaubt uns zu behaupten, dass uns die Freimaurerloge geistig bereichert, uns für die gemeinnützige Arbeit vorbereitet und zugleich Werte schafft, die sie der Gesellschaft anbietet. An den Arbeiten der Loge teilzunehmen bedeutet die Möglichkeit, sich von ihrem Geist durchdringen zu lassen und sich Techniken anzueignen, die sie benutzt. Nachdem wir diese bewältigen – und nur von diesem Augenblick an – können wir aus unserer Isolation treten, die Welt der Nichteingeweihten betreten und nützlicher für sie sein als bisher ohne die Freimaurerei.

Die Loge oder der Orden treten in der Öffentlichkeit selten auf, weil die Umstände, unter denen sie den Lauf der Gesellschaft wirksam beeinflussen können, nur ausnahmsweise eintreten. Die Freimaurerei ist nicht entstanden, um in die Führung der „Gemeinde“ einzugreifen, sie ist dafür auch nicht gut ausgestattet. Obwohl jeder von uns in der profanen Welt nach seinem Wissen und Gewissen unabhängig handelt, ist er nicht mehr allein.

Darin liegt die Kraft der Freimaurerei.

Peter Bu

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